NFL-Taktikschule

Teil 4 – Wie Schach nur ohne Würfel

In den ersten drei Teilen der Taktikschule habe ich mich sehr intensiv mit den oberflächlichen Grundlagen der Taktik im American Football auseinandergesetzt. Diese umfassten überwiegend die unterschiedlichen Positionen und Formationen in der Offensive sowie Defensive, die sich ohne größere Mühe vor jedem Snap beobachten lassen. Diese Elemente bilden aber lediglich die Basis für die hintergründige Taktikschlacht während jedes Footballspiels. Genau diesen tiefergehenden Prozessen und Gedankenspielen wollen wir uns heute annähern.

American Football: Schach auf dem Rasen

Von vielen Journalisten wird der Fußball sehr gerne auch als „Rasenschach“ bezeichnet. Diese Formulierung hat in meinen Augen noch nie wirklich zugetroffen, da ein Fußballspiel einen konstanten Fluss aufweist – also gegenteilig zum Schach, bei dem auf jeden Zug eine Pause folgt, in der der Gegner seinen nächsten Schritt überdenkt. Die Football-Experten werden schon wissen, worauf ich hinaus will: Der Begriff des „Rasenschachs“ passt also deutlich besser zum American Football, da hier nach jedem Spielzug eine kleine Pause einlegt wird, in der die Teams den nächsten Spielzug besprechen.

Unwichtige Trivia: Der Spruch „Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel“, an den die Überschrift dieser Ausgabe eindeutig angelehnt ist, stammt – im Gegensatz zu meinem bisherigen Weltbild – nicht von dem deutschen Fußballer Lukas Podolski. Kein Geringerer als Jan Böhmermann legte Podolski diesen Satz während einer satirischen 1Live-Show im Jahr 2008 in den Mund. Und obwohl der ehemalige Nationalspieler diesen Spruch selbst so nie gesagt hat, ist er heute noch in den Köpfen vieler Menschen fest mit ihm verbunden.

Aber nicht nur optisch ist der Vergleich deutlich treffender: Im American Football lassen sich unterschiedliche Herangehensweisen an Eröffnung und Reaktionen viel leichter identifizieren. Grundsätzlich sucht ein Team immer die Lücke im System des Gegners, um die Oberhand zu gewinnen. Gelingt es dem Gegner im Umkehrschluss nicht die offengelegte Schwäche auszumerzen oder zu kompensieren, läuft es Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Dieses gegenseitige Wechselspiel aus Aktion und Reaktion spielt selbstverständlich in jeder taktischen Sportart eine tragende Rolle. Dennoch nimmt diese Dynamik in der NFL eine besondere Stellung ein, was im Laufe dieser Ausgabe deutlich werden soll.

Wie kommt ein Football-Team zum Erfolg?

Im ersten Schritt möchte ich vorab die grundlegende Absicht von Taktik allgemein festhalten: Sie dient immer zur Erreichung eines festgelegten Ziels. Das Ziel aller Mannschaften in der NFL ist Gewinnen. Nur in ganz wenigen Fällen kann es sein, dass ein Team das anstehende Spiel in der regulären Saison verlieren möchte: Beispielsweise, wenn ein schlechtes Team um den ersten Pick im kommenden Draft kämpft oder wenn ein Playoff-Team am Ende der Saison eine bestimmte Konstellation vermeiden bzw. erzwingen möchte. Aber ansonsten gilt für jedes Team am Ende jedes Spiels nur eins: der Sieg.

Daher stellt sich die Frage: Was macht ein erfolgreiches Team aus? Wieso geht am Ende der Saison ein Team fast ohne Niederlagen aus der Saison? Und warum fällt es einer anderen Mannschaft so schwer, überhaupt ein Spiel zu gewinnen? Die Taktik an dieser Stelle als das Zauberwort darzustellen, wäre falsch. Schließlich funktioniert selbst die beste Taktik nur dann, wenn auch Spieler auf dem Feld stehen, die sie verinnerlicht haben und anwenden können. Es braucht also ein gewisses Grundlevel an Talent innerhalb einer Mannschaft, um Erfolg zu haben.

Ein Beispiel: Der beste Spielzug, an dessen Ende drei Receiver freistehen, hilft nichts, wenn der Quarterback sein Ziel überwirft. Genauso hilft auch ein freier Receiver nichts, wenn dieser den Ball nicht fangen kann.

Dennoch gewinnt ein Team voll mit Superstars nicht automatisch jedes Jahr den Super Bowl. Es braucht also nicht nur Talent auf dem Feld, sondern auch einen Teamgeist und gutes Coaching. Der Coaching-Staff eines NFL-Teams besteht aus einer Vielzahl von Trainern, von denen jeder sein Spezialgebiet hat. Der Offensive- und der Defensive-Coordinator nehmen aber gemeinsam mit dem Head-Coach (Cheftrainer) die prominentesten Rollen ein. Letzterer ist hauptverantwortlich für das taktische Auftreten seiner Mannschaft. Deswegen braucht er eine Vision für sein Team! Aber wie kommt die dann aufs Feld?

Der lange Weg von der Vision zum Spielzug

Trifft ein neuer Headcoach bei einem NFL-Team ein, verkörpert er bereits eine grundlegende Mentalität. Manche Coaches bevorzugen das Laufspiel, andere den Pass und manche setzen auf eine sehr abwechslungsreiche Offensive. In der Regel sucht das Management eines Teams bereits einen Coach aus, der ihrer Ansicht nach gut zu ihrem Team passt. Dennoch ist es die erste Aufgabe des Trainers sich das vorhandene Spielermaterial anzuschauen und sich ein offensives System zu überlegen, dass auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Spieler abgestimmt ist. So entsteht das Playbook eines Teams für die neue Saison. Dieses umfasst ein weites Portfolio an Lauf-, Pass-, Play-Action- und Trick-Spielzügen, die das Fundament für die kommende Spielzeit legen.

Nun ist das komplette Playbook deutlich zu umfangreich, damit jeder Spieler für jedes Spiel jeden Spielzug im Kopf haben kann. Daher beginnt am Anfang einer jeden Woche ein Analysten-Team mit der Vorbereitung auf den bevorstehenden Gegner. Sie schauen sich stundenlang Videomaterial an, um ein Bild davon zu erhalten, was sie im nächsten Spiel zu erwarten haben. Auf dieser Basis wird dann der Gameplan erstellt, der die besten Spielzüge aus dem Playbook gegen den speziellen Gegner umfasst. Dieser Fahrplan wird innerhalb der freien Tage zwischen zwei Spielen von den Spielern verinnerlicht, um ihn dann während der Partie abrufen zu können. Dieses Vorgehen geschieht gleichzeitig auf der offensiven und der defensiven Seite.

Beispiel: Aus der Videoanalyse ging hervor, dass der kommende Gegner schlecht gegen den Lauf durch die Mitte verteidigt, aber wenige tiefe Pässe zulässt. Dementsprechend werden in den Gameplan bevorzugt Spielzüge mit Läufen durch die Mitte und kurzen Pässen integriert, um die Schwächen optimal nutzen zu können, bzw. die Stärken des Gegners zu umgehen. Auf der defensiven Seite würde man beispielsweise gegen ein Team mit starkem Laufspiel den Fokus auf die Laufverteidigung legen, um den Gegner zu Pässen zu zwingen.

Der letzte Schritt passiert dann auf dem Feld. Der Coach wählt den seiner Meinung nach besten Spielzug für die jeweilige Situation aus und teilt diesen seinem QB per Headset mit. Dieser informiert seine Kollegen im Huddle vor dem Snap über den Spielzug und das Team stellt sich auf. An der Line-of-Scrimmage können ab diesem Zeitpunkt die Elite-QBs die Verteidigung lesen und noch einzelne Veränderungen anbringen (Audibles genannt), die ihrer Ansicht nach helfen den Spielzug optimal zu gestalten und die Schwächen der Defense auszunutzen.

Die Optionen einer Offensive

An dieser Stelle bietet es sich an, einen groben Überblick über die Optionen der Offensive zu geben. Die einzelnen Aspekte werden in den kommenden Ausgaben noch sehr viel ausführlicher behandelt, ein erster Einstieg bietet sich hier jedoch schon an. So lassen sich die weiteren Ausführungen besser nachvollziehen.

Die Offensive unterteilt sich grundlegend in zwei Bereiche: das Pass- und das Laufspiel. Beide Optionen können in bestimmten Situationen deutlich effektiver sein als die andere. Daher muss der Coach bei seinem Playcalling stets abwägen, ob er den Ball laufen oder passen möchte.

Übersicht der offensiven Optionen:

  • Laufspiel:
    • durch die Mitte
    • über die Außen
  • Passspiel:
    • kurze Pässe
    • mittellange Pässe
    • tiefe Pässe

Die ausführlichen Möglichkeiten innerhalb der Pass- und Laufspielzüge werden in den kommenden Ausgaben genauer erläutert. Für den Moment reicht eine grobe Einteilung, um das kommende Thema der Tendenzen besser verstehen zu können.

Tendenzen

Für das tiefergehende Verständnis der Taktik im American Football ist Thema Tendenzen und Wahrscheinlichkeiten unausweichlich. Sie bestimmen viele der Trainerentscheidungen auf allen Ebenen. Dazu zählt die Erstellung des Playbooks, das Zusammenstellen des Gameplans und letztendlich das Playcalling auf dem Feld. Außerdem hat das Arbeiten mit, um und gegen Tendenzen einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Spielzügen.

Die Tendenzen beschreiben dabei, was man am Ehesten von seinem Gegner im nächsten Spielzug erwarten kann. Darauf basiert dann die eigene Entscheidung. Beispielsweise welches defensive Schema man spielen lassen möchte. Tendenzen hängen hierbei von verschiedenen Umständen ab. Diese sind überwiegend äußerlicher Natur und schränken die Möglichkeiten der Offensive ein. Als erster Einfluss wäre hier die Anzahl der Versuche zu nennen, die noch übrig sind, um ein neues 1st-down zu erhalten. So beginnen viele Teams ihre Angriffsreihe bei 1st&10 mit einem Laufspielzug, um den Lauf direkt zu etablieren. Gelingt es einem Team nämlich durch den Lauf Gefahr auszustrahlen, lässt sich auch das Passspiel effektiver aufbauen. Schließlich muss sich die Verteidigung dann auch immer auf einen gefährlichen Lauf vorbereiten.

Bei den zweiten und dritten Versuchen kommen dann noch andere Faktoren hinzu. Grundsätzlich gibt die Länge bis zum neuen 1st-down vor, welcher Spielzug am wahrscheinlichsten gewählt wird. War der erste Lauf zum Beispiel erfolgreich und man konnte mindestens vier Yards gut machen, so ist ein erneuter Laufspielzug wahrscheinlich. Benötigt man aber bei einem dritten Versuch beispielsweise noch 8 Yards, so kann man davon ausgehen, dass die Offensive im nächsten Spielzug auf einen Pass gehen wird.

Ein Beispiel:

  • Team A startet einen frischen Drive an der eigenen 20 Yard-Line. Bei 1st&10 ist jetzt ein Laufspielzug am wahrscheinlichsten, da das Team versuchen wird über den Lauf Gefahr auszustrahlen. Dementsprechend wird Team B vermutlich eine Defensive auf das Feld stellen, die sich primär auf den Lauf konzentrieren wird.
  • Geht man davon aus, dass Team A tatsächlich läuft und einen Raumgewinn von 2 Yards verbuchen kann, so stehen sie im zweiten Versuch einem 2nd&8 gegenüber. Was jetzt? Der Coach kann versuchen erneut per Lauf einige Yards zu erlaufen, um eine bessere Ausgangslage für den dritten Versuch zu generieren. Alternativ kann er auch einen kurzen bis mittellangen Pass versuchen, um direkt einen neuen ersten Versuch zu erzielen.
  • In diesem Beispiel wählt der Coach einen Pass, der sein Team bis an die eigene 28 Yard-Line bringt. Es fehlen also noch zwei Yards im dritten Versuch, um an die gewünschte 30 Yard-Line zu kommen. In diesen 3rd&short Situationen wird dann oftmals der Lauf erwartet, da nur wenige Yards für einen neuen 1st-down fehlen.
  • Gelingt in diesem Beispiel der letzte Lauf nicht, so befindet sich das Team im 4th down und wird nach aller Wahrscheinlichkeit mit einem Punt das Angriffsrecht abgeben. In seltenen Fällen kann ein Coach sich aber auch für einen Trickspielzug wie einen Fakepunt entscheiden, um so auf diesem Weg einen neuen ersten Versuch zu bekommen.

Um die unterschiedlichen Tendenzen möglichst übersichtlich zusammenzufassen, habe ich eine kleine Tabelle angelegt. Diese soll helfen eine grobe Übersicht über die allgemeinen Tendenzen zu geben. Dabei sollte immer im Hinterkopf bleiben, dass die Entscheidungen in bestimmten Situationen selbstverständlich von der Philosophie des Coaches und des vorhandenen Spielermaterials auf dem Feld abhängen.

long (> 8 Yards)medium (4-8 Yards)short (< 4 Yards)
1st downLaufspielzug
2nd downPassspielzugPass- oder LaufspielzugLaufspielzug
3rd downPassspielzugPass- oder LaufspielzugLaufspielzug
4th downPunt/FGPunt/FG (oder Fake)Punt/FG oder Laufspielzug (oder Fake)

Nun wäre es natürlich zu einfach, wenn man anhand gewisser Tendenzen, die aus einer Vielzahl von Footballspielen errechnet wurden, festzustellen, ob der Gegner laufen oder passen wird. Dies ist selbstverständlich nicht der Fall. Dennoch entwickelt sich ein Footballspiel immer um die grundlegenden Tendenzen herum. So versuchen Teams insbesondere in spielentscheidenden Situationen mit den allgemeinen, aber auch mit den persönlichen Tendenzen zu brechen. Damit erhofft man sich den Gegner auf dem falschen Fuß zu erwischen und so den Spielzug erfolgreich abschließen zu können.

Triggerwarnung an alle Seahawks-Fans! Eines der bekanntesten und verheerendsten Beispiele für einen solchen Bruch ereignete sich im Superbowl 2015. Die Seahawks waren 20 Sekunden vor Schluss nur noch ein Yard vom spielentscheidenden Touchdown entfernt. Mit Marshawn Lynch hatte man damals einen der besten Runningbacks der Liga. Die offensichtliche Tendenz: Einen kurzen Lauf für den Touchdown. Coach Pete Carroll entschied sich jedoch dafür mit der Tendenz zu brechen und überraschte die Patriots mit einem Pass. Dieser ging jedoch gründlich nach hinten los, als er von einem DB der Patriots intercepted wurde. So verloren sie das Spiel und den zum Greifen nahen Titel innerhalb von Sekunden. Ein sehr abschreckendes Beispiel, was sich insbesondere in der anschließenden Reaktion der Medien und Fans widerspiegelt. Denkt man dies aber ein Stück weiter und der Spielzug wäre Dank des Überraschungsmoments geglückt, hätte man rückblickend von einem genialen Schachzug gesprochen, der den Seahawks den Titel gesichert habe.

Nun hat das Arbeiten mit und um die Tendenzen herum noch tiefergehenden Einfluss auf das Spiel. Es hat sogar eine eigene Herangehensweise der Offensive geschaffen: den Play-Action-Pass. Bei diesem Spielzug täuscht der QB die Ballübergabe an seinen RB nur an und behält den Ball für einen Pass. Dabei soll die Verteidigung getäuscht werden, damit sie ihre Verteidigung auf den Lauf fokussiert und im Umkehrschluss Passrouten frei werden. Ähnliche offensive Konzepte, die um das Thema der Tendenzen herum gebaut wurden, sind Sweeps, RPOs und einige Trickplays, die allerdings an anderer Stelle thematisiert werden sollen.

Ich hoffe ich konnte an dieser Stelle einen groben Einstieg in das komplexe Thema der Tendenzen geben. Es sollte deutlich geworden sein, welchen Einfluss dieser Aspekt des Footballs auf den Sport hat. Außerdem hoffe ich ein wenig das Gefühl vermittelt zu haben, wie ein Team seine Taktik entwickelt. Wie immer gilt: Wenn etwas unverständlich geblieben ist oder andere Frage aufgekommen sind, könnt ihr mir diese gerne unter dem Beitrag oder per Social Media stellen. Ich hoffe, ihr seid bei der nächsten Ausgabe nochmal dabei, wenn wir uns das Laufspiel genauer anschauen werden.

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